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13. Januar 2023

Bevor etwas passiert!
Prävention von Extremismus durch Bindung und Begegnung

Peter Hanack (Frankfurter Rundschau) moderierte das VBE Forum. Foto: Friedhelm Windmüller

Nicht das tausendste World Café sollte es sein, aber eben auch keine Frontalbeschallung. Idee des VBE Forums ist, mit VBE-Mitgliedern und Referierenden aus Wissenschaft, Praxis oder Politik zu einem spezifischen Thema in den Austausch zu kommen – und zwar über den Tellerrand hinaus. Lösungs- und praxisorientierte Ansätze stehen im Zentrum der Impulse und Workshops. Den Rahmen für das Forum bietet die VBE Bundesversammlung, das höchste Entscheidungsgremium des VBE, das nur einmal jährlich tagt und zu dem ca. 70 Delegierte aus ganz Deutschland anreisen. Mitte Dezember fand in Berlin das VBE Forum „Fokus Extremismusprävention: Das Miteinander an Schule wertvoll gestalten“ statt.

Prävention statt Reaktion – Ins Agieren kommen

Impuls für das Thema war eine abscheuliche Tat: die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty in Frankreich. Natürlich sei das kein Alltag an Schule, betonte der VBE Bundesvorsitzende Gerhard Brand. Er machte aber mit Verweis auf die repräsentativen Ergebnisse der forsa-Umfragen zum Thema „Gewalt gegen Lehrkräfte“ deutlich, dass die Verrohung der Gesellschaft vor Schule nicht Halt mache. Konflikte unter Schülerinnen und Schülern habe es immer gegeben, aber: „Wo ‚Du Jude‘ als Schimpfwort genutzt oder Kindern während des Ramadans das Pausenbrot aus der Hand geschlagen wird, müssen wir reagieren! Und eigentlich ist es dann schon zu spät. Wir wollen in die aktive Position kommen. Nicht reagieren, sondern agieren.“

Geladen war geballte Expertise. Eine Islamwissenschaftlerin, ein Psychologe, der selbst extremistischen Versprechungen in die Falle ging, und ein Schulleitungsmitglied vom über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Campus Rütli. Eine spannende Mischung von Referierenden, die – moderiert vom Leitenden Redakteur der Frankfurter Rundschau, Peter Hanack – zunächst ihre zentralen Thesen vorstellten, bevor sich die Teilnehmenden entscheiden mussten, zu wessen Workshop sie gehen möchten.

Zwischen Chance und Überforderung

Den Auftakt machte Riem Spielhaus, Professorin für Islamwissenschaften an der Universität Göttingen, mit einer einleuchtenden Kontextualisierung. Sie zeigte, wie in Schulbüchern der Islam besprochen wird. In der Regel: problemorientiert und (ab)wertend. Der islamische Religionsunterricht bietet hingegen einen Raum, wo Gläubige „unter sich“ sein können mit einer Lehrkraft, die ihrem Glauben gegenüber positiv eingestellt ist. Für viele eine ganz neue Erfahrung. Zudem bietet dies auch die Möglichkeit, die innerreligiöse Vielfalt nachzuzeichnen.

Allerdings sind die Erwartungen, die an den islamischen Religionsunterricht gestellt werden, viel zu hoch. Integrativ soll er wirken, bei der Sprachbildung unterstützen, das Religionswissen stärken, extremistischem Gedankengut vorbeugen oder bei der Deradikalisierung helfen und noch vieles mehr. Das überfordere das Fach. Wohl aber kann es im Unterrichtskanon dabei unterstützen, die vorgenannten Ziele zu erreichen – aber nur, wenn eben auch in anderen Fächern (und in positivem Kontext) über Religion gesprochen wird.

Der interkonfessionelle Religionsunterricht bietet ganz eigene Chancen. Mit einer Lehrkraft, die selbst gläubig ist und einen positiven Bezug zu Religion hat, kann ein wertschätzender Austausch über die Verschiedenheit, aber auch die Ähnlichkeit der Religionen etabliert werden. Irritation inklusive.
So berichtete das VBE-Mitglied aus Nordrhein-Westfalen, Klaus Köther: „Das hat die richtig fertig gemacht. Diese Erkenntnis: Verschiedene Religionen haben ähnliche Geschichten; ich habe kein exklusives Wissen, sondern wir sind uns näher als ich dachte.“ Er sprach sich damit nicht nur für einen interkonfessionellen Religionsunterricht aus, sondern auch dafür, im täglichen Miteinander genau solche Momente zu provozieren.

Gegenmittel zum Postfaktischen finden

Und das ist auch dringend notwendig, sagt Ahmad Mansour, Psychologe und Autor. Aus seiner eigenen Geschichte heraus weiß er, wie schnell man in die Fänge radikalen Denkens geraten kann und wie schwer es ist, sich dort wieder herauszuarbeiten. Was er aber auch weiß: Radikalisierung beginnt nicht unbedingt durch die extreme Auslegung religiöser Schriften. Sie beginnt bei dem Beziehungsaufbau zwischen Imam und Schützlingen, zwischen Zuhören und Dasein, zwischen Angenommenwerden und Angekommensein.

Die Zeit dafür fehlt an der Schule. Die Gesellschaft erwartet ein auf Leistung ausgerichtetes Schulsystem und zeigt wenig Verständnis für Zwischenmenschliches. Erinnern Sie sich allein daran, wie viele Eltern ihrem Unmut Luft machen, wenn vor den Ferien Filme angesehen oder Ausflüge gemacht werden. Wenn dort sowieso nichts Inhaltliches passiert, könnten die Kinder doch auch gleich zu Hause bleiben, heißt es dann. Dass diese Tage vor den Ferien großen Wert für den Klassenzusammenhalt haben und einen Rahmen für die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden bieten, wird oft außer Acht gelassen.

Dabei ist genau diese Beziehungsebene das Wichtigste im Kampf gegen das postfaktische Zeitalter, so Mansour. Man muss das Gefühl vermitteln können, wahrgenommen zu werden. Er sagt, wir brauchen Dialog und Austausch, Empathiebildung und Begegnung – und nicht zuletzt Gegennarrative zu unterkomplexen, fanatischen Erzählungen.

Ohne Bindung keine Bildung

Der Campus Rütli hat sich einen Namen gemacht. Mittlerweile ist er einigen geläufig, weil er von einer grundsoliden Finanzierung getragen wird und auf dem Campus allerlei reformpädagogische Ansätze umgesetzt werden (können). Doch vor wenigen Jahren war er vor allem eines: Durch einen Brandbrief in den Medien bekannt für die Bedrohungslage, die dort herrschte. Kein schöner Ort für gute Beziehungen.

Die stellvertretende Schulleiterin, Kerstin Ruoff, zog aber ein positives Fazit ihres Schaffens. Erstens war es enorm wichtig nach den Schulschließungen zur Eindämmung der Infektionen mit dem Corona-Virus neu zu beginnen. In einer „Sozialen Woche“ fand eine Bestandsaufnahme statt, auf deren Basis ein neues Schulprogramm erstellt wurde. Und zweitens unterstrich sie die Bedeutung der Elternarbeit für das Schulklima. Wer Extremismus vorbeugen möchte, braucht eine feste Basis des Vertrauens, auf der Lehrende und Lernende sowie ihre Angehörigen miteinander aufbauen können. Sie gab allen den Ratschlag mit, sich einfach „zu trauen“. Lieber eine Fachstunde ausfallen lassen und in die zwischenmenschliche Ebene investieren als Konflikte im Raum stehen zu lassen, welche die Schülerinnen und Schüler sowieso vom Lernen abhalten würden. Überhaupt ist das die Haupterkenntnis: Nur wo Bindung ist, kann Bildung entstehen.

Zwischen guter Fee und Tante Wirklichkeit

Und doch gibt es auch Fälle, wo schlicht kein Austausch gewollt ist. Mathias Hamann, Geschäftsführer des Instituts für Kommunikation und Gesellschaft, machte in seinem launigen Kurzvortrag deutlich, wie uns realistische Erwartungen vor Enttäuschungen bewahren. Denn was bringt es, zwar Recht zu haben, aber niemanden zu erreichen?

Während ich mir von der guten Fee wünsche, dass sich jemand komplett ändert und mir recht gibt, weiß die Tante Wirklichkeit, dass ich lieber auf eine graduelle Änderung hoffen sollte. Die Verortung in einem Kontinuum von „starke Befürwortung“ über „positive/negative Unentschlossene“ bis hin zu „starke Ablehnung“ hilft dabei zu erkennen, welche Veränderung für den Moment möglich ist und ermöglicht, Gruppendiskussion geschickt zusammenzusetzen und sich gut auf Debatten vorzubereiten.

…und was die IQB-Ergebnisse damit zu tun haben

Den Abschluss des Tages bot nach den vertiefenden Workshops eine gemeinsame Diskussion, doch auch nach deren Ende tauschten sich alle beim Mittagessen weiter lebhaft aus. Im Mittelpunkt:
Die große Verunsicherung, die nach der Veröffentlichung der IQB-Studie Anfang Dezember 2022 in den Lehrkräftezimmern der Nation entstanden ist. Der Fokus der Politik richtet sich noch weiter auf Leistung, anstatt „nach Corona“ Freiräume zu schaffen, um Bindung und Beziehung zu ermöglichen. Dass so die extra Aufgaben, die an Schule herangetragen werden, wie zum Beispiel Extremismusprävention, erst recht nicht erfüllt werden können, wurde von den Teilnehmenden deutlich herausgearbeitet. Eine Lösung ist noch nicht in Sicht, aber der VBE bleibt am Ball!

Abgerundet wurde das VBE Forum vom Graphic Recorder Dominik Eberle. Er hatte den ganzen Tag über die Impulse und Debattenbeiträge als Schlagworte grafisch aufbereitet und zeigte die so entstandene Landkarte in einem kleinen Video. Dieses können Sie unter www.vbe.de/vbe-fokus/vbe-forum-2022 ansehen.

Das VBE Forum zeigte sich damit von seiner besten Seite: Tiefe Einsichten, konstruktive Aussichten, viele Gespräche und abseits des Alltags die Möglichkeit, ganz konkret zu einem Thema unterschiedlichste Ansätze kennenzulernen.

Text: Anne Roewer